Lange blonde Haare
sich an ihr binden,
die zarte Haut
kann nur der Wind finden.
So hell und weich die Haut,
sie meine Seele aufsaugt.
Sie steht da in Gedanken,
das Fenster spiegelt ihre Flanken.
Leere im Gesicht,
ihre Augen besitzen dieses Licht.
Dieses leuchtende Licht,
doch es regt sich nichts.
Der Regen perlt an den Scheiben,
mit Wasser kann ich leiden.
Sie steht da in meiner Welt,
doch meine Welt ihr nicht gefällt.
Ein Atemzug so tief,
ihr Bauchnabel dies verriet.
Ihre Beine gehen aus dem Licht,
so mein Herz zerbricht.
-A
Inspiration: Von Dickens’ „Große Erwartungen“ zum Gedicht
Die erste Funkenidee zündete vor dem Fernseher: In der BBC‑Verfilmung von Charles Dickens’ „Great Expectations“ (2023) sah ich Pip, wie er im Regen vor Miss Havishams Fenster steht – halb gebannt von Estellas Schönheit, halb gelähmt von der Klassenschranke zwischen ihnen. Diese einzelne Szene – blonde Strähnen an verregneter Scheibe, funkelnde Augen im Zwielicht – verdichtete sich in meinem Kopf zu dem Bild einer Frau, die greifbar nah und doch unerreichbar fern bleibt. Aus diesem visuellen Kontrast entstand das Gedicht: eine Momentaufnahme, in der Wind, Glas und Herz im selben Atemzug kollidieren.
Interpretation & Motiv
„Erwartungen“ erzählt in 10 Strophen die Geschichte eines stillen Begehrens. Zentral ist die Dualität – Nähe vs. Distanz, Licht vs. Schatten, Innenwelt vs. Außenwelt. Das lyrische Ich beobachtet eine Frau, deren Anmut ihm fast körperliche Schmerzen bereitet, weil jede Berührung nur Vorstellung bleibt. Regen auf Fensterscheiben spiegelt den inneren Guss: Jede Perle ist ein unerfüllter Wunsch. Selbst der Atemzug, der ihren Bauchnabel hebt, wird zum Beweis dafür, dass sie lebt – aber nicht für ihn. Die „zwei Welten“ sind damit sowohl soziale als auch emotionale Räume: Sein Kosmos, ihr Kosmos; dazwischen eine Scheibe aus Glas und Erwartung.
Stilmittel in knappen Versen
- Ellipse & Reduktion: Die Zeilen verzichten bewusst auf Bindewörter (»doch es regt sich nichts«), sodass jede Silbe Gewicht bekommt.
- Antithese / Kontrast: Licht ↔ Leere, Regen ↔ Hitze des Begehrens – die Gegensätze spannen einen semantischen Bogen.
- Alliteration & Klang: Wiederholungen wie „hell – haut“ oder „Wind – finden“ erzeugen einen weichen Rhythmus, der das körperliche Motiv der Haare aufgreift.
- Metonymie: Die „Scheiben“ stehen stellvertretend für die Grenze zwischen den Figuren; der „Bauchnabel“ verrät das Unsichtbare – ihr verborgenes Innenleben.
FAQ zum Gedicht
Worum geht es in ›Erwartungen‹?
Kurz gesagt: um das brennende Gefühl, jemandem so nah zu sein, dass jede Distanz körperlich weh tut – und doch zu wissen, dass diese Nähe nie geteilt wird.
Warum spielen Regen und Fenster eine so große Rolle?
Der Regen materialisiert die Traurigkeit des lyrischen Ichs; das Fenster ist die gläserne Wand, an der jede Hoffnung kondensiert und wieder herabperlt.