Rilkes „Liebes-Lied“ (1907, *Neue Gedichte*) gilt als Inbegriff moderner Liebeslyrik: filigran, nachdenklich, voller stiller Intensität. Unten findest du den Originaltext, eine leicht verständliche Analyse sowie eine Hörprobe zum Nachspüren der leisen Melodie.
Originaltext Liebes Lied
Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt?
Wie soll ich sie hinheben über dich
zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.
Die Hörprobe gibt es hier
Kurzinhalt (in zwei Sätzen)
Das lyrische Ich fragt, wie es seine Seele vor der überwältigenden Nähe des Geliebten schützen könnte. Es erkennt schließlich, dass beide wie zwei Saiten eines Instruments zusammenklingen und von einer höheren, unergründlichen Kraft gespielt werden.
Interpretation
1 │ Sehnsucht nach Distanz
Rilke beginnt mit der Angst vor Auflösung in der Geliebten: Die Seele könnte ihre Eigenständigkeit verlieren. Das Wort „halten“ deutet an, dass Nähe zugleich Gefahr ist.
2 │ Unmögliche Trennung
Der Versuch, die Seele „bei irgendwas Verlorenem“ zu verstecken, scheitert. Der Geliebte ist allgegenwärtig – jede Bewegung des einen versetzt den andern in Schwingung.
3 │ Metapher des Instruments
Das Bild zweier Saiten, die zu einer Stimme verschmelzen, zeigt: Liebe ist nicht Besitz, sondern Resonanz. Die Frage nach dem „Geiger“ öffnet einen spirituellen Horizont – Liebe als Kunstwerk einer höheren Macht.
Historischer Kontext
Entstanden 1907 in Paris, wo Rilke Rodin assistierte. Die Gedanken an Konsonanz und künstlerisches „Gespieltwerden“ spiegeln seine Auseinandersetzung mit Musik, Skulptur und dem Überpersönlichen in der Kunst wider.
FAQ
Was macht „Liebes-Lied“ zu moderner Liebeslyrik?
Die Verbindung existenzieller Frage („Wie soll ich …?“) mit einer musikalischen Metapher löst sich von traditionellen Liebesklischees und erlaubt individuelle Deutung.
Darf ich das Gedicht frei verwenden?
Ja. Rilkes Werk ist gemeinfrei. Für private Anlässe kannst du es ohne Genehmigung zitieren. Bitte nenne den Autor und gern einen Hinweis auf Männerrosa.de.